Nicht nur ältere Queers sind in der Öffentlichkeit oft nicht sichtbar – auch queere Geschichte im Allgemeinen.
Eine Geschichte, die nicht in unseren Schulbüchern steht. Eine Geschichte, die nicht am Familientisch erzählt wird. Eine Geschichte, die nicht zum Allgemeinwissen gehört. Vielmehr eine Geschichte, die als Spezialwissen nur denjenigen zuteilwird, die explizit danach fragen.
Mein persönlicher Antrieb entspringt der Suche nach queeren Vorbildern.
Ziel der kollaborativen Portraitserie ist es daher, einen Austausch der Generationen anzuregen, vor allem aber auch der LGBTQIA+ Generation ab 50 zuzuhören.
Hannah, 71
Hannah, 71
Bernd, 64
Bernd, 64
Ilka, 51
Ilka, 51
Udo, 69 und Andreas, 59
Udo, 69 und Andreas, 59
Jennifer, 56
Jennifer, 56
Hartmut, 59
Hartmut, 59
Bettina, 61 und Bettina, 71
Bettina, 61 und Bettina, 71
Detlef, 72
Detlef, 72
Gary, 45 und Jörg, 59
Gary, 45 und Jörg, 59
Achim, 77
Achim, 77
Renee, 69
Renee, 69
Loek, 77
Loek, 77
Gert, 71
Gert, 71
Queere Vergangenheit erinnern
Text: Ingo Pätzold
Ich freue mich sehr, die Arbeit von Markus mit einigen Worten zu begleiten, die als Problemaufriss und die Notwendigkeit gelesen werden können, nicht-heterosexuelle Personen aus einer zeithistorischen Perspektive sichtbar zu machen.
Der Kern der hier vorliegenden Arbeit trifft eine Beobachtung, die sowohl Markus als auch mich als Historiker beschäftigt: Warum wissen wir so wenig über das Queersein der Generation vor uns? Wo sind die Vorreiter der heutigen queeren Bewegung? Wo sind unsere Vorbilder und was kann man von ihnen lernen? Welche Diskurse beschäftigten die Protagonisten damals und welche davon haben noch heute Bestand im Erleben von und im Reden über das Queersein? Wie, wo und in welchen Aktionsbündnissen wurde für die Emanzipation queerer Menschen vor unserer Zeit gekämpft (und wo nicht)? Die Themen rund um unsere noch immer heteronormativ geprägte Gesellschaft können doch nicht erst ein Phänomen der neuesten Zeitgeschichte sein – sie müssen eine Geschichte haben! Eine Geschichte, die nicht in unseren Schulbüchern steht, eine Geschichte, die nicht am Familientisch erzählt wird, eine Geschichte, die nicht zum Allgemeinwissen gehört, sondern als Spezialwissen nur denjenigen zuteilwird, die explizit danach fragen.
Aleida Assmann hebt hervor, dass Erinnerung (memory) sich auf verschiedenen Ebenen herausbildet und auf uns Menschen einwirkt.[1] Auf eher informeller Ebene gibt es das Erinnerungsvermögen einer jeden Einzelperson (individual memory), das bis zum Tode des Individuums reicht. Darüber kann man das sogenannte social memory feststellen, in dem die Erinnerungen der letzten drei Generationen gefasst werden. Schon mit diesen beiden Begriffen lässt sich das oben beschriebene Problem näher umschreiben. Denn durch den Umstand, dass die Reproduktion bei gleichgeschlechtlichen Partner*innen nicht selbstverständlich und manchmal auch unmöglich oder ungewollt ist, gibt es keinen automatischen Übergang der Erinnerungen aus der einen in die andere Generation. Geschichten von queers ohne Kinder müssen also aktiv gehört werden, da ihre Erfahrungen ansonsten zu denjenigen Geschichten werden, die subaltern bleiben.

Neben der informellen Ebene der Überlieferung von Erinnerung gibt es noch die offizielle Ebene, mit der das sogenannte political und das cultural memory gefasst werden. Auf der offiziellen Ebene der Überlieferung haben wir es also mit Phänomenen wie Archiven, festgesetzten Gedenk- und Feiertagen, Curricula, Gedenkstätten oder Museen zu tun. Führt man sich vor Augen, dass der Bundestag erst im letzen Jahr seinen queeren NS-Opfern gedenkt, wird schnell deutlich, dass in Deutschland nicht allzu viel Energie in das aktive Erinnern queerer Vergangenheiten investiert wird. Ein Stolperstein hier, ein kleines Denkmal da – insbesondere in ländlichen Gebieten fernab des wokeism der Großstadt wachsen queers geschichtslos auf, oftmals ohne lebensnahe Vorbilder und Identifikationsvorlagen.
Der Effekt dieser Geschichtslosigkeit ist, dass viele Umstände, Erfahrungen und Phänomene des Queerseins nicht in ihrer Historizität begriffen werden können. Vor diesem Hintergrund ist es im Sinne des Generationsaustausches umso wichtiger, den Erinnerungen queerer Personen im Alter 50+ Gehör zu schenken und ihnen in der Geschichtsschreibung und im kollektiven Gedächtnis unserer Gesellschaft einen Platz zu geben. Solange beides nicht systematisch erfolgt, gilt das, was schon George Santayana sagte:
„Wer die Geschichte nicht erinnert, ist verurteilt, sie neu zu durchleben.“

[1] Aleida Assmann, Re-framing Memory. Between Individual and Collective Forms of Constructing the Past, in:
K. Tilmans, F. Van Vree, & J. Winter (Eds.), Performing the Past:
Memory, History, and Identity in Modern Europe (pp. 35-50), Amsterdam University Press 2012, 
doi:10.1017/9789048512027.003.

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